Polen: Neue Staatlichkeit

Polen: Neue Staatlichkeit
Polen: Neue Staatlichkeit
 
Die revolutionären Umbrüche 1917/18 in Mittel- und Osteuropa sowie die Auflösung Russlands und Österreich-Ungarns ermöglichten Polens Wiedergeburt am Ende des Ersten Weltkrieges. In der Endphase dieses Krieges wurden Unabhängigkeitsversprechungen vonseiten der Mittelmächte am 5. November 1916, der russischen Provisorischen Regierung am 17./30. März 1917 und schließlich auch von der britischen Regierung am 5. Januar 1918 abgegeben. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson versprach in seinen »Vierzehn Punkten« den Polen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes jene Gebiete, die von einer »unbestreitbar polnischen Bevölkerung« bewohnt seien, und einen freien Zugang zur See.
 
Als der Regentschaftsrat in Warschau am 7. Oktober 1918 das »Vereinigte unabhängige Polen« proklamierte, herrschte selbst unter den Polen keine Einigkeit über die Grenzen des neuen Staatsgebildes. Der Nationaldemokrat Roman Dmowski, der 1917 in Lausanne ein Polnisches Nationalkomitee gegründet hatte und zusammen mit dem Pianisten Ignacy Jan Paderewski die polnische Delegation bei der Pariser Friedenskonferenz leitete, war der Wortführer eines aggressiven antideutschen Nationalismus. Mit westlicher Hilfe strebte er ein Polen in den Grenzen des frühmittelalterlichen Reiches unter der Piastendynastie an. Neben den preußischen Teilungsgebieten Posen und Westpreußen wollte er auch Danzig, Oberschlesien und das südliche Ostpreußen zurückholen, während er im Osten auf eine Verständigung mit Russland setzte. Sein Gegenspieler Józef Piłsudski dachte in den Dimensionen des Jagiellonenreiches. Er richtete den Blick mehr nach Osten und träumte von einem länderübergreifenden föderativen Staatsgebilde in Ostmitteleuropa, das unter polnischer Führung den Einflussbereich Russlands weiter zurückdrängen sollte. Obwohl Dmowski über mehr Rückhalt bei den westlichen Regierungen verfügte, hatte Piłsudski in Polen selbst die Machtfrage längst zu seinen Gunsten entschieden.
 
 Polen gewinnt Konturen
 
Am 11. November 1918 ernannte der Regentschaftsrat Piłsudski zum Oberbefehlshaber und »Vorläufigen Staatschef« mit weitgehenden Vollmachten. Das neue Polen war vor allem sein Werk. Die Regierungsgewalt beschränkte sich anfänglich nur auf das bisherige Besatzungsgebiet der Mittelmächte in Kongresspolen, in Westgalizien und in Teilen der russischen Westgouvernements. Die schleppende Rückgabe der von Polen beanspruchten Territorien legte es nahe, an den neuralgischen Punkten bewaffnete Verbände zum Einsatz zu bringen und den friedensvertraglichen Regelungen vorzugreifen. So bewirkte der Aufstand vom 27. Dezember 1918 den raschen Anschluss Posens. Die Grenze zu Deutschland wurde im Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 geregelt. Er überließ Polen den größten Teil Westpreußens und Posens sowie kleinere Gebiete in Pommern, Ostpreußen und Niederschlesien. Polen erhielt über den Weichselkorridor einen Zugang zur See. Danzig wurde als »Freie Stadt« einem Völkerbundkommissar unterstellt. Bei den von den Frieden schließenden Mächten zugelassenen Plebisziten stimmte die Bevölkerung im südostpreußischen Allenstein und im westpreußischen Marienwerder am 11. Juli 1920 mit deutlicher Mehrheit für Deutschland. In Oberschlesien, das während der Übergangsphase mehrfach von Aufständen heimgesucht wurde, veranlasste das Abstimmungsergebnis vom 20. März 1921 von 59,6 Prozent für Deutschland und 40,4 Prozent für Polen den Völkerbundsrat zu einer Teilung. Polen wurde das ostoberschlesische Kohle- und Industrierevier zugesprochen. In der zwischen Tschechen und Polen umstrittenen Teschener Frage in Österreichisch-Schlesien musste sich Polen einem Schiedsspruch des Obersten Rates der Alliierten beugen und am 28. Juli 1920 einer Teilung zustimmen.
 
 Der Polnisch-Sowjetische Krieg
 
Nach dem Abzug der deutschen Truppen suchte Piłsudski die Demarkationslinie zum bolschewistischen Machtbereich möglichst weit nach Osten vorzuschieben. Am 2. Januar 1919 hatten »Polnische Selbstschutzkräfte« Wilna, die historische Hauptstadt Litauens, besetzt, mussten sich aber schon am 5./6. Januar 1919 wieder vor der anrückenden Roten Armee zurückziehen. Im April eroberten die Polen die Stadt zurück und stießen weiter bis Minsk vor. Am 21. April 1920 einigte sich Piłsudski mit dem Befehlshaber der antibolschewistischen Ukrainischen Volksrepublik, Ataman Symon Petljura, auf ein Angriffsbündnis gegen die Bolschewiki. Schon am 7. Mai 1920 zogen polnische Truppen in Kiew ein. Der überraschende Gegenstoß der Roten Armee unter Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewskij zwang sie jedoch zur Aufgabe aller weißrussischen und ukrainischen Eroberungen. Am 11. Juli 1920 forderte der britische Außenminister Lord George Curzon im Namen des »Obersten Rates« der Alliierten den Rückzug der Roten Armee hinter die Linie Grodno —Brest —Przemyśl (Curzon-Linie). Der sowjetische Vormarsch konnte erst in der Schlacht vor Warschau vom 16. bis 25. August 1920 mit französischer Hilfe zum Stehen gebracht werden. Aus polnischer Sicht betrachtet, gilt dieser Sieg als »Wunder an der Weichsel«. Der Friedensvertrag von Riga am 18. März 1921 legte den Grenzverlauf zur Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik sowie zur Weißrussischen und Ukrainischen Sowjetrepublik fest. Am 9. Oktober 1920 war Wilna in einer handstreichartigen Aktion erneut von polnischen Einheiten besetzt worden. Trotz litauischer Proteste behaupteten die Polen schließlich mit Billigung des alliierten Botschafterrates den Besitz des Wilnagebietes. Polen hatte sein Territorium in der Zwischenkriegszeit beträchtlich über die ethnographischen Grenzen hinaus ausgedehnt. In den Außenbeziehungen beschworen die Gebietsgewinne einen Dauerkonflikt mit Litauen und der Tschechoslowakei herauf und trübten das Verhältnis zum Deutschen Reich und zum Sowjetstaat.
 
 Die innere Entwicklung
 
Verhängnisvoll waren auch die innenpolitischen Folgen der Grenzregelungen. Polen hatte in den Randgebieten starke ukrainische, jüdische, deutsche und weißrussische Minderheitengruppen zu integrieren — 31 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den Alliierten war Polen zur Einhaltung von Minderheitenschutzbestimmungen verpflichtet worden. Der Mustervertrag vom 28. Juni 1919 gewährte aber keinen Gruppenschutz, sondern garantierte nur individuelle Rechte. Er bot in der Alltagspraxis keine wirksame Handhabe gegen administrative Diskriminierungen. Die Angehörigen der Minderheiten blieben daher von einem zunehmenden Assimilierungsdruck nicht verschont. Sie wurden von willkürlichen Enteignungen betroffen und bei der Besetzung staatlicher Ämter benachteiligt, ihre Kinder waren vielerorts gezwungen, polnische Schulen zu besuchen. In Posen und Westpreußen reagierte die deutsche Bevölkerung mit hinhaltendem Widerstand gegen eine aggressive polnische Kulturpolitik. Annähernd 600000 Deutsche verließen bis 1926 das Land.
 
Das Wahlsystem gestand den Minderheiten nur ein beschränktes Mitspracherecht im Sejm zu. Über Listenverbindungen erreichten sie dennoch im November 1922 bei den ersten gesamtstaatlichen Parlamentswahlen einen beachtlichen Stimmenanteil. Der Minderheitenblock wurde bei der Präsidentenwahl am 9. Dezember 1922 zum Zünglein an der Waage. Seine Stimmen ermöglichten im fünften Wahlgang den Sieg von Gabriel Narutowicz. Piłsudski hatte angesichts des Parteienstreits, in dem sich Rechte und Linke erbittert befehdeten, und der eingeschränkten Kompetenzen, die in der Verfassung vom 21. März 1921 dem Staatspräsidenten eingeräumt wurden, auf eine eigene Kandidatur verzichtet. Er zog sich 1923 grollend aus allen öffentlichen Ämtern zurück. Die Wahlverlierer diffamierten Narutowicz in einer von antisemitischen Parolen angeheizten Atmosphäre als »Staatspräsidenten der Nichtpolen und der Juden«. Am 16. Dezember 1922 wurde er Opfer eines Attentats. Der Währungsverfall, der rigorose Sparmaßnahmen und 1924 eine einschneidende Währungsreform erzwang, der Zollkrieg mit Deutschland und die wachsende Zahl der Arbeitslosen schädigten das Ansehen der Regierung. Korruption und Misswirtschaft brachten das gesamte parlamentarische System in Verruf.
 
 Die »Sanierung«
 
Innerhalb einer stark aufgesplitterten Parteienlandschaft fehlte die einigende politische Kraft, um die immer offenkundigere Staatskrise zu meistern. Als Retter der Nation bot sich erneut Piłsudski an. Von seinem Landgut in Sulejówek bei Warschau aus bereitete er sorgfältig einen Staatsstreich vor: Mit loyalen Truppen marschierte er am 12. Mai 1926 gegen Warschau und erzwang den Sturz der Regierung. Ohne förmliche Aufhebung der Verfassung steuerte er bis zu seinem Tode am 12. Mai 1935 als starker Mann im Hintergrund die Aktionen einer »moralischen Diktatur«, mit denen eine umfassende »Sanierung« des politischen Lebens herbeigeführt werden sollte. Piłsudski lehnte die Übernahme des Präsidentenamtes ab. Der Regierung gehörte er als Kriegsminister an, zeitweilig bekleidete er auch das Amt eines Ministerpräsidenten. Missliebige Politiker schüchterte er durch willkürliche Übergriffe ein. Die Verfassung vom 23. April 1935 entzog dem Parlament alle wichtigen Entscheidungsbefugnisse. Den Rückhalt für das autoritäre Regime, das ganz auf seine Person als »Kommandant« oder »Marschall« zugeschnitten war, fand Piłsudski mit dem von ihm aufgebauten »Obristen-Regime« vor allem in der Armee, deren Repräsentanten er mit verantwortlichen Posten betraute.
 
In der Außenpolitik scheiterten die ostmitteleuropäischen Föderalisierungspläne ebenso wie das angestrebte Bündnis mit den baltischen Staaten an der ungelösten Wilnafrage. Gegen Revisionsforderungen der Nachbarn bot die Einbindung in die Kleine Entente und in Frankreichs Politik des cordon sanitaire in Ostmitteleuropa während der Zwanzigerjahre einen zeitweiligen Rückhalt. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland gefährdete das mühsam austarierte Gleichgewicht und brachte Polen wegen seiner restriktiven Minderheitenpolitik in die Schusslinie Hitlers. Piłsudski war vorübergehend nicht abgeneigt, einen Präventivkrieg in Erwägung zu ziehen, doch versagte ihm Frankreich die erbetene Unterstützung. Sein Vertrauter Oberst Józef Beck, ab 1932 Außenminister, erreichte eine diplomatische Zwischenlösung. Er schloss Nichtangriffspakte mit der Sowjetunion am 25. Juli 1932 und mit dem nationalsozialistischen Deutschland am 26. Januar 1934. Sie boten jedoch keinen dauerhaften Schutz vor den Expansionsgelüsten der Nachbarn. Hitlers Kriegspläne im Osten beendeten abrupt die kurze Verschnaufpause. Polen wurde zwischen den beiden Machtblöcken Deutschland und Sowjetrussland zerrieben und sein Staatsgebiet im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 als Dispositionsmasse für eine erneute Aufteilung vorgesehen. Am 1. September 1939 befahl Hitler den Angriff auf Polen.
 
Prof. Dr. Edgar Hösch
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Polen: Der Weg zur parlamentarischen Demokratie
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Polen: Nation ohne Staat
 
 
Broszat, Martin: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. Neuausgabe Frankfurt am Main 41986.
 
The Cambridge history of Poland, herausgegeben von William F. Reddaway u. a., 2 Bände. Cambridge 1950-51.
 Fuhrmann, Rainer W.: Polen. Handbuch Geschichte, Politik, Wirtschaft. Neuausgabe Hannover 1990.
 Hellmann, Manfred: Daten der polnischen Geschichte. München 1985.
 
History of Poland, herausgegeben von Zuzanna Stefaniak. Beiträge von Aleksander Gieysztor u. a. Aus dem Polnischen. Warschau 21979.
 Hoensch, Jörg K.: Geschichte Polens. Stuttgart 31998.
 Laeuen, Harald: Polnische Tragödie. Stuttgart 31958.
 Rhode, Gotthold: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt 31980.
 Roos, Hans: Geschichte der polnischen Nation. 1918-1985. Von der Staatsgründung im 1. Weltkrieg bis zur Gegenwart, fortgeführt von Manfred Alexander. Stuttgart u. a. 41986.

Universal-Lexikon. 2012.

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